„Man fühlt sich machtlos“ – Streit in der Eisenbahnstraße – wie ein Haus gegen Entmietung kämpft

Niedrige Mieten, viel Freiheit – Häuser wie die Eisenbahnstraße 97 gibt es in Leipzig nur noch selten: Jetzt wächst der Druck auf die Bewohner. Ein neuer Eigentümer bringt Kündigungen ins Spiel.

Lene hat es sich gerade im Wohnzimmer mit einem Kaffee auf der Couch gemütlich gemacht – da ploppt auf dem Handy eine Nachricht auf, die wie ein Hilferuf klingt: Bauarbeiter seien auf dem Dach, hämmern gegen eine Wand, es ist laut. Ob man kurz kommen könnte? Lene geht raus in den Hausflur. Dort haben sich schon Nachbarn versammelt. Sie steigen die Treppen hinauf. Und als sie oben ankommen, können sie den Hinterhof sehen: Teile des Dachstuhls liegen komplett frei, die Schindeln stapeln sich in einer Ecke, manche sind zerbrochen. „Krass“, sagt Lene. „Gestern spielten hier noch Leute Tischtennis.“

Vor ein paar Monaten haben sie einen Brief bekommen: Darin wurde ihnen offiziell bestätigt, was sie schon lange wussten: Die Eisenbahnstraße 97 hat einen neuen Eigentümer. Von „kurzfristigen Instandhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen“ ist die Rede. Mittlerweile ist das Haus komplett eingerüstet, einzelne Fenster sind abgeklebt, im Flur lagern Holzlatten – jetzt soll also das Dach neu gedeckt werden. Nun könnte man sagen: Da will einer sein Haus schick machen. Belastend, klar – aber auch irgendwie verständlich: Das Gebäude ist durchaus sanierungsbedürftig.

Doch für die Bewohner und Bewohnerinnen geht es um mehr. Bevor das Haus zu einer Baustelle wurde, gab es Drohungen, eine Stromleitung wurde gekappt. Und dann ist da die Sache mit dem Gas: Seit Ende Mai ist es abgestellt. Weder Eigentümer noch Hausverwaltung kümmern sich darum. Mittlerweile streitet man vor Gericht, die Stadt Leipzig ist involviert. Und Lene und die anderen glauben: Man will sie schikanieren, sie loswerden, vertreiben aus ihrem Zuhause.

Das Haus mit der Nummer 97 steht nicht unter Denkmalschutz – und trotzdem lässt sich hier Leipziger Geschichte erzählen: Sie handelt von einer Stadt, die nach der Wiedervereinigung massiv schrumpfte, einstige Arbeiterviertel wie der Leipziger Osten standen leer. Die Immobilien waren schön billig – aber auch ganz schön kaputt. Die Besitzer waren froh, wenn überhaupt einer einzog. Der Deal war klar: Billige Mieten, dafür kümmert man sich selbst um Renovierungen und Reparaturen. Für die Bewohner der Eisenbahnstraße 97 bedeutet das bis heute: Freiheit. Sie haben Wände durchbrochen, leben teilweise zu sechst zusammen: Studenten wie die 21-jährige Lene, Pflegerinnen, Lehrer, Bauplaner. In Wohnungen, in denen frühere Mieter ihr altes Leben zurückgelassen haben: Bilder, Pflanzen, Möbel, Instrumente.

Lene ist vor anderthalb Jahren von Wiesbaden nach Leipzig gezogen, in eine Wohnung im zweiten Stock der Eisenbahnstraße 97. Am liebsten ist sie dort, wo die Geschichte losging: im Wohnzimmer. Den kleinen Giebel umrahmen aus Holz geschnitzte Zirkuspferde. Aus Paletten haben sie ein kleines Podest gebaut. Eine grüne Matratze liegt darauf, Kissen – rundherum stehen Pflanzen. Das Fenster ist offen, man hört die Tram vorbeidonnern, Pfiffe und Rufe auf der Straße. Abends, wenn unten im Haus die Bar „Goldhorn“ öffnet, dann dringt das Gelächter der Gäste herauf – es ist der Sound eines Viertels, das sich mittlerweile stark gewandelt hat.

Eine Genossenschaft wollte das Haus kaufen

Der Leipziger Osten ist mittlerweile beliebtes Wohn- und Ausgehviertel. So wie früher in Connewitz oder Plagwitz, wächst jetzt der Kiez rund um die Eisenbahnstraße rasant: Im Jahr 2000 lebten in Volkmarsdorf und Neustadt-Neuschönefeld 14000 Menschen. 2023 hat sich deren Zahl fast verdoppelt. Vor allem Studenten ziehen hierher. Das Interesse von Immobilienunternehmen und privaten Investoren ist schon länger geweckt. Grundstücke und Häuser werden für ein Vielfaches verkauft. Sobald Mieter ausziehen, werden die Wohnungen komplett saniert und teurer vermietet. Bis zu zehn Euro pro Quadratmeter zahlt man mittlerweile für eine Wohnung in guter Lage. Das ist günstiger als anderswo, aber die Mieten steigen. Wer sie sich nicht mehr leisten kann, wird irgendwann gehen müssen.

Eine Entwicklung, gegen die sie sich in der Eisenbahnstraße 97 gewappnet fühlten: Die in den Mietverträgen vereinbarten Beträge sind vergleichsweise gering. Sie liegen bei unter sechs Euro pro Quadratmeter – weil es jede Menge Mängel gibt, zahlen die Bewohner noch sehr viel weniger. Und dann ist da noch eine Vereinbarung, wonach die Miete bis 2036 nur sehr langsam ansteigt. Das zeigen Unterlagen, die der LVZ vorliegen. Mit so einer Immobilie lässt sich schwerlich Geld machen. Eine Genossenschaft war bereit, die Immobilie zu kaufen. Aus Sicht von Lene und den anderen wäre das die beste Lösung gewesen: Sie hätten das Haus selbst saniert, verwaltet. Doch die Verhandlungen scheiterten im letzten Moment.

Lange nur Gerüchte über neuen Eigentümer

Über den neuen Eigentümer gab es im Haus lange nur Gerüchte. Im „Goldhorn“ tauchte im Sommer 2023 ein Mann auf. Er wollte mit den Betreibern verhandeln, unter welchen Voraussetzungen die Bar nach Ablauf des Gewerbemietvertrags im Haus bleiben könnte. Im Raum stand offenbar eine Ablöse und eine deutliche Mieterhöhung: 35 Euro für den Quadratmeter – eine Summe, über die Betreiber Vincent sagt: „Das lässt sich legal nicht erwirtschaften.“

Auch andere im Haus kennen die Person. Sie habe sich schon als Postbote und Hausverwalter ausgegeben, sei irrational und „impulsiv wie ein 12-Jähriger“. Es gab Drohungen: „Wenn sich das Ganze nicht ruhig klären ließen, dann müsse man es auf „die eigene Art“ probieren. Eine entsprechende Sprachnachricht liegt der LVZ vor. In der Eisenbahnstraße 97 vermuten sie, dass es sich hier um einen Strohmann handelt, der Druck machen soll. Der eigentliche Eigentümer ist Orhan A.. Auf offiziellen Schreiben gibt er die Adresse von NAS Immobilien an. Die Firma hat mittlerweile die Hausverwaltung in der Eisenbahnstraße 97 übernommen. Wer bei NAS Immobilien anruft, bekommt eine Abfuhr: Man solle sich nie wieder melden.

Die Kommunikation läuft über den Anwalt von Orhan A., Kristian Bielow. Auf offizielle Anfrage der LVZ schreibt Bielow, es habe in der Vergangenheit „unschöne Vorfälle“ gegeben. Ins Detail geht er nicht. Man habe versucht, die Angelegenheit wieder auf eine sachliche Ebene zu heben. Tatsächlich versicherte Bielow den Hausbewohnern in einem Schreiben, es werde weder eine Erhöhung der Mietzinsen geben noch ein Ende laufender Verträge. Für die „kurzfristigen Instandhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen“ bittet der Rechtsanwalt um Verständnis.

Mittlerweile streitet man sich vor Gericht

Doch zu diesem Zeitpunkt haben sich die Hausbewohner längst organisiert, online eine Petition gestartet, die mittlerweile 7008 Menschen unterschrieben haben. Im ganzen Viertel hängen Plakate: „Die E97 bleibt“. „Ein Albtraum“, so beschreibt Kristian Bielow heute den Umgang mit den Hausbewohnern. Die Kontaktaufnahme zu den Mietern gestalte sich schwierig, Aufforderungen Schrott aus dem Hinterhof zu beseitigen, den Müll aus dem Keller zu räumen, sei man nicht nachgekommen. Einen Termin, um Wohnungen und Mängel zu besichtigen, ließen die Hausbewohner verstreichen. Die Sanierungsarbeiten würden regelrecht behindert.

Im Haus widersprechen sie: Eigene Gegenstände, wie Fahrräder habe man beiseite geräumt: „Aber es ist nicht unsere Aufgabe, Müll wegzuräumen, der uns nicht gehört“, sagt eine Mieterin aus dem ersten Stock. Die Frist für den Besichtigungstermin sei zu kurzfristig gewesen. Jede WG habe eigene Vorschläge gemacht. Zu umständlich, findet das wiederum Bielow. Man habe auch noch andere Dinge zu erledigen, „als im Haus zu campieren“.

Es ist ein ewiges Hin und Her – zuletzt häuften sich in der Eisenbahnstraße 97 dann auch noch Störungen und Angriffe: Das Stromkabel des „Goldhorn“ wurde gekappt, zwei Mal brannte der Freisitz – und Ende Mai hat jemand im Keller den Gashahn umgelegt.

Seitdem gibt es kein warmes Wasser. Wenn Lene warm duschen will, muss sie zu Freunden gehen. Immerhin: Für die Küche haben sie sich jetzt eine elektronische Kochplatte besorgt, weil sie mittlerweile wissen, dass sich die Situation nicht so bald ändern wird.

Eine WG zieht mit Anwalt vor Amtsgericht

Eine WG ist jetzt mit einem Anwalt vor das Amtsgericht Leipzig gezogen, hat eine einstweilige Verfügung durchgesetzt. Im Beschluss wird der Eigentümer unter anderem aufgefordert, die Gasversorgung wieder herzustellen. Der Beschluss ist vom 12. Juni – bis heute ist nichts passiert. Seine Mandantschaft habe „aktuell keine Ambitionen, die Versorgung wiederherzustellen zu lassen“, schreibt Rechtsanwalt Kristian Bielow auf Anfrage. Die Haustechnik sei marode, eine Gefährdung für die Bewohner nicht ausgeschlossen.

Das Haus sei eine „verwahrloste Ruine“. Bielow will gegen den Beschluss des Amtsgerichts vorgehen, bringt sogar die Möglichkeit von Verwertungskündigungen ins Spiel. Auf die Situation der Bewohner angesprochen, schreibt Bielow: Die „hatten es von Anfang an auch in der Hand, das Geschehen zu entschärfen.“

Die Baustelle, die ständigen Auseinandersetzungen, Aussicht auf einen langwierigen Rechtsstreit – all das lässt die Hausgemeinschaft zusammen rücken, es belastet sie aber auch: „Wir wissen nie was als Nächstes passiert – man fühlt sich so machtlos“, sagt Lene in ihrem Wohnzimmer. Sie haben das Amt für Bauordnung und Denkmalpflege der Stadt Leipzig über die Situation informiert. Dort heißt es, der Sachverhalt werde geprüft. Ergebnis: offen.

Während die Bewohner darum kämpfen, bleiben zu dürfen, bereitet sich die Bar „Goldhorn“ im Erdgeschoss auf den Auszug vor. Ende September muss der 41-jährige Betreiber Vincent die Räume geräumt übergeben. Darauf hat er sich mit dem Eigentümer vor Gericht geeinigt. Er bekommt 30000 Euro für die eigens eingebaute Lüftungsanlage – genug Geld, um das „Goldhorn“ woanders wieder aufzubauen. Wo genau, weiß Vincent noch nicht. Nur eines ist klar: „Nicht auf der Eisenbahnstraße“. Nach den Erfahrungen der letzten Monate will Vincent den Leipziger Osten verlassen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, eine mittelgroße Wohnung würde in Schönefeld 18 Euro pro Quadratmeter kosten. Diesen Fehler haben wir korrigiert.